Vorwärts

Als ich Kurt kennenlernte, stürmte er gerade unbeholfen und blindlings durch unsere Abteilung. Er sah aus, als wäre ihm etwas Unglaubliches widerfahren. Unbeholfen stiess er mit mir zusammen, drehte sich vor mir noch einige Male im Kreise, bevor er ohnmächtig zu Boden sank.

Sogleich betteten wir ihn auf eine Couch, legten ihm einen Eisbeutel auf die Stirn und hüllten ihn in eine Decke. Wir rechneten mit dem Schlimmsten, riefen daher sogleich beim Regionalspital an.

Doch als die Pfleger endlich atemlos herbeigerannt kamen, sass er bereits wieder einigermassen sicher auf einem Stuhl und betrachtete uns nur mitleidig. Ironie umspielte seine Lippen, doch er schwieg.

Ich wusste nicht, was ich von ihm halten sollte, schliesslich stürmte ich nicht jeden Tag in Trance versunken und dazu wie wild tanzend ins Büro, nur um die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Doch andererseits schien mir Kurt definitiv nicht verrückt zu sein. Ich wurde nur einfach nicht schlau aus ihm.

Kurze Zeit nach seinem Zusammenbruch war er bereits wieder tief in seine Arbeit versunken. Keineswegs so verbissen oder verkrampft wie wir es waren, sondern schlicht gelassen und beherrscht. Und erstaunlich flink. Ich traute meinen Augen kaum, mit was für einer Geschwindigkeit er Texte tippte, Tabellen ausfüllte und Briefe verschickte.

Manuela, unsere direkte Vorgesetzte, liess kurz darauf durchsickern, dass er erst vor kurzem befördert und zu uns versetzt worden war. Wir mussten uns also mit solch einem Streber abfinden, ob es uns nun gefiel oder nicht, wir hatten keine Wahl. Das Leben spielte einem manchmal hässliche Streiche.

Nur kurz darauf verschwand Kurt jedoch bereits wieder aus unserem Büro, Tom hatte seine Bitte um Kaffee nicht einmal vollständig formulieren können. Kaum war er weg, schon stolzierten zwei herausgeputzte Gockel von der Überwachung vorüber. Prompt kreuzte sich ihr Weg mit dem von Tom, der sich selbst bei der Maschine bedient hatte. Freudig überrascht war nur der Kaffee, der auf ein kochendes Gegenüber gestossen und glücklich geworden war. Erschrocken wich Tom zurück. Dies war nicht sein Tag. Doch Entschuldigen und Beschwichtigen, nicht einmal Angebote der sofortigen Reinigung trafen auf Verständnis.

Deprimiert zog er sich zurück, stiess dabei beinahe mit der sich öffnenden Tür zusammen, durch die Kurt zurückkehrte. Der nahm wieder Platz und arbeitete weiter, wie wenn nichts geschehen wäre. Er vertiefte sich in seine Aufgabe wie keiner von uns. Grr. Wer bin denn ich?

Kurt wagte es sogar, seinen Posten verfrüht zu verlassen. Frechheit! Schnellen Schrittes verliess er das Haus, eilte über die Strasse und lief dann, nach einem kurzen Blick auf die Uhr, schnell bis zur nächsten Kreuzung. Neugierig sah er zur anderen Seite hinüber. Welch holdes Wesen stand dort, was für eine Schönheit! Er hatte sich unsterblich in sie verliebt, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Dies war das zweite Mal, und ihm blieb nicht mehr viel Zeit.

Schnell spähte er wiederholt zu seinem Handgelenk, federte auf den Fussballen ab und setzte zum überqueren der Strasse an. Hatten nicht Retter immer die grössten Chancen? Also los.

Die Ampel wechselte von Grün auf Gelb, die Farbe der strahlenden Sonne. Seine Geliebte auf der anderen Strassenseite merkte dies, machte längere Schritte. Es würde nicht reichen. Er sprintete los.

Links heulten die Motoren, rechts blendete die Sonne, oben eine dunkle Wolke, vor ihm eine Silhouette auf dem Fussgängerstreifen. Ein Fluch, qualmende Reifen, schneller, ein erstauntes Gesicht. Wer bin ich? Rasend, sprintend, rennend, auf sie zu stürmend. Wo bin ich? Hechtend, sie umarmend, zurückwerfend. Was bin ich? Ein Lufthauch, quietschende Bremsen, verbrannter Gummi in der Luft.

"Sind Sie in Ordnung?" Er rappelte sich hoch, wischte sich Staub von den Schultern und gab ihr die Hand. "Danke!" Sie liess sich von ihm führen, auf ihn gestützt. Was für ein schöner Tag es doch war. "Soll ich Sie nach Hause begleiten?" So machten es die Helden in all den Filmen und in seinen Träumen. "Das wird nicht nötig sein, ich bin okay".

"Alles klar, gehen wir".

"Nicht nötig", wiederholte sie. Er musterte sie überrascht. Sie erwiderte seinen Blick hart und bestimmt. "Wieso?" Konnte sie es ahnen? Wie?

"Woher wussten Sie, dass es geschehen würde?" Woher er es wusste? Nun, er wusste es. Wusste es einfach. Er hatte es bereits erlebt. Hatte er doch, oder?

"Woher wissen Sie es?" konterte er. "Instinkt". Sie ging, verliess ihn. Er hatte versagt. Nur, weshalb bloss? Er wusste es nicht. Hilflos und verloren sank er zu Boden. Er hatte versagt, damit musste er sich abfinden.

"Kurt!" Eine Stimme. Die Stimme. Er erhob sich, wischte sich imaginären Staub von der Hose und sah sich um. Es war wie beim vorherigen Mal. Genau so. Eine tiefe, dröhnende Stimme hallte aus dem Nichts, und nur er schien sie hören zu können.

"Ja?" Unsicherheit schwang in seiner Stimme mit. Er kannte die Frage. Doch kannte er die Antwort ebenfalls?

"Also?" Das erste Mal hatte er mit "ja" geantwortet. Hatte er doch, oder? Oder war das etwa nur ein Traum gewesen? Er glaubte nicht daran. überzeugt wandte er sich um.

"Nein!" Und so geschah es.

Als ich Kurt kennenlernte, stürmte er gerade unbeholfen und blindlings durch unsere Abteilung. Er sah aus, als wäre etwas Unglaubliches widerfahren. Unbeholfen stiess er mit mir zusammen, drehte sich vor mir noch einige Male im Kreise, bevor er ohnmächtig zu Boden sank.

Sogleich betteten wir ihn auf eine Couch, legten ihm einen Eisbeutel auf die Stirn und hüllten ihn in eine Decke. Wir rechneten mit dem Schlimmsten, riefen also sogleich beim Regionalspital an.

Doch als die Pfleger endlich atemlos herbeigerannt kamen, sass er bereits wieder einigermassen sicher auf einem Stuhl und betrachtete uns sanft lächelnd. "Wisst Ihr, Leute, es ist gut wieder in diesem Universum zu weilen", platzte es aus ihm heraus. Kurz darauf schüttelte er sich vor Lachen, zu unser aller Erstaunen. Was hatte der bloss? Und überhaupt: wer war das? Ich hatte ihn noch nie in unserer Abteilung gesehen.

Manuela, unsere Vorgesetzte, teilte uns kurz darauf mit, dass er zu uns versetzt worden war und nun mit uns arbeiten würde. Konnte noch interessant werden, die Zeit mit dem Neuen. Hoffte ich jedenfalls.

Zumindest amüsant wurde es schnell, nämlich bereits dann, als Kurt mit dem Kaffee für Tom über zwei Personen der Überwachung stolperte und ihnen den Kaffee über die makellose Uniform goss. In seiner Haut hätte ich nicht stecken wollen, wirklich nicht.

Erst Monate später, als wir uns bereits viel näher gekommen waren, stellte er uns seine Frau vor. Sie war am Tag seiner Versetzung zu uns vor seinen Augen bei einem Verkehrsunfall verunglückt. Im Spital hatten sie sich dann persönlich kennengelernt. Mir gegenüber erwähnte er sogar einmal, dass er tatsächlich die Möglichkeit gehabt hätte sie zu retten. Doch sei er nun viel glücklicher.

Der Strom der Zeit bahnte sich seinen Weg durch die Dimensionen. Zeit fliesst. Alles fliesst. Doch fliesst es immer vorwärts. Tut es doch, oder?

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