Du kannst Dir überhaupt nicht vorstellen, wie schlimm es ist, hier gefangen zu sein. Zellwände aus Papier umgeben mich, doch kann ich dennoch nicht durch sie hindurch treten. Du siehst herein, betrachtest mich in meinem Unglück, doch was bleibt mir? Ich sitze hier, stehe hier, liege hier, hinter einer weissen Unendlichkeit. Wenige schwarze Buchstaben in dieser Grenzenlosigkeit sind meine einzige Verbindung zur Aussenwelt, zur Wirklichkeit. Du hast da gut reden. Du siehst hoch, schaust über den Rand des Blattes hinweg, da bist Du zuhause. Deine Welt ist nicht weiss, eintönig und leer wie die meine. In ihr blüht ein Regenbogen, es glitzern die Seen, duften die Wiesen, rufen die Berge. Deine Welt ist abwechslungsreich, sie ist Abwechslung, sie lebt vom Wandel. Meine Welt hingegen ist Ordnung, klar strukturierte Buchstaben auf purem Grund. Nur dass ich ihr nicht entkommen kann, während Du hier nur ein Besucher bist.
Dennoch erfahre ich vieles von Dir und Deiner Welt. Verschmilzst Du mit mir, so verschmelze ich mit Dir, wir werden eins. Du erlebst meine Welt, ich erlebe die Deine. Vieles ist es, das ich von Dir erfahren habe, Schönes und Herrliches. Du dagegen erlebst Betrübendes und Nüchternes bei mir. Trotzdem befindest Du Dich hier, schon wieder, immer noch. Sehr oft besuchst Du mich, Du lebst mit mir, in meiner Welt. Du wünschst Dir innig, Du könntest für immer bei mir leben, Dich häuslich einrichten, Deine Phantasie walten lassen und träumen. Meine Welt sei schön, sagst Du, erzählst es all Deinen Freunden. Wie gerne Du hier wärst, wieviel besser es Dir gefiele.
Du hast ja keine Ahnung, wie es sein kann. Ein Leben dort, wo nichts alles und alles nichts ist. Abhängig von Gedanken, Erlebnissen, Bildern, wie Du von Luft und Wasser. Alles, das mir ist, ist auch Dir und all den Millionen von Milliarden Wesen, die Dein Universum mit Dir teilen.
Spannend sei es hier, Gefühle könnest Du hier erleben und ausleben, Informationen sammeln. Das kann ich auch, wenn Du eindringst. Ich verschlinge Deine Erinnerungen, zapfe Dein Gehirn an und sauge es aus. Ich kenne die Vergangenheit, erahne die Zukunft. Zeit und Raum sind keine Grenzen für mich. Doch Du, anstatt Dein Glück in Deiner Welt zu suchen, träumst von mir und meinen Fähigkeiten. Ich kann alles, mehr als Du es in einem ganzen Leben nie können wirst. Ich bin allmächtig und Du hast mich zu Deinem Gott gemacht.
Doch drehe Dich um, sieh umher in Deiner Welt! Wo bist Du? In einem Arbeitszimmer, in einem Abteil im Schnellzug, im Autobus oder ausgestreckt auf Deinem Bett? Es trennt Dich ein Fenster von Deiner Welt. Du hoffst, das Fenster bringe Dich näher zu mir, indem es Unbekanntes und Fremdes abtrenne, Eindrücke verhindere. Du irrst. Ich bin alles und ich bin nichts. Du kennst nur einen geringen Anteil meiner Selbst. Je tiefer Du in mich dringst, desto weniger wirst Du wissen. Meine Welt wirst Du so nie teilen können, Du kannst höchstens lernen, ihr näher zu kommen.
Wende Dich um, fühle Deine Welt! Spürst Du das Leben, das sie einschliesst? Nimmst Du wahr, wie Marienkäfer einen Stiel hochkrabbeln, Bussarde hoch am Himmel ihre Kreise drehen, Mäuse in dunkle Ecken huschen? Es trennt Dich eine Schranke von ihnen. Du meinst, Du kämest mir näher, wenn Du andere ausgrenzst. Doch Du irrst. Sie leben in einer Welt, die Dir noch unbekannt ist. Ihre Welt ist anders als die Deine, reiner, einfacher. Je mehr Du selbst nach Klarheit strebst, desto mehr Klares entzieht sich Deinen Blicken. Meine Welt wirst Du so nie teilen können, Du müsstest zuerst die ihre kennenlernen.
Geh in Dich, durchforsche Dein Inneres! Was planst Du? Hast Du noble Ziele, möchtest arbeiten, um Geld zu verdienen, um andere glücklich zu machen, glaubst noch an die Ideale Deiner Jugend? Du hast noch soviel zu tun, eine Arbeit nach der anderen erwartet Dich, entreissen Dir Deine Zeit, Deine Kraft, Deinen Lebenswillen. Dein Gott predigt Dir Liebe, daher arbeitest Du, Du erarbeitest Dir Deine Liebe. Arbeit ist Dein Leben, sie dominiert es, nicht Dein Geist, auch wenn Du dies noch so gerne hättest. Bei mir suchst Du Entspannung, Befreiung, Arbeit für Deinen Geist. Die Arbeit dominiert Dich und all die anderen. Sogar im Schlaf arbeitest Du unbewusst weiter. Wenn Du nicht arbeitest, bist Du tot.
Deine Anwesenheit macht mich glücklich. Jedenfalls solange Dich mein Sein ebenfalls glücklich zu stimmen vermag. Meine Welt mag klar, einfach und strickt sein, doch dies macht sie nicht zu einer schlechteren Welt. Ich geniesse das Nichts, das mich umgibt, genauso wie ich die unendliche Vielfalt in ihrer unendlichen Kombination geniesse, in der ich ebenso lebe. Mein Leben mag für Dich erstrebenswert sein, ich schätze mich daher fröhlich, es leben zu können und zu dürfen. Und weisst Du: manchmal habe ich sogar das Gefühl, Du blickest aus Deiner Welt heraus, wenn Du mich betrachtest.
Ich heisse Dich herzlich willkommen in meine Welt! Gleichzeitig muss ich aber auch mein tiefstes Beileid aussprechen, dass Du mich bereits wieder verlassen musst. Die Zeit, die wir verbracht, hätte schöner nicht sein können. So geh dahin, holdes Wesen, und beglücke Deine Artgenossen. Au revoir, good bye und hasta la vista, entscheide Dich bei der Frage nach Sein oder Nichtsein fürs Sein und lasse die Würfel nicht zu weit hinunter fallen! Wir sehen uns sicher bald wieder...