Er stiess die Tür zu seiner Kajüte auf, als er plötzlich spürte, wie sie mit lautem Krachen und ächzen auf ein Hindernis stiess. Ohne zu überlegen trat er einen Schritt zurück und rammte sogleich seine Schulter in sie hinein, wodurch er sie beinahe aus den Angeln hob. Doch wenigstens stand sie nun offen, und er torkelte in Richtung seiner Koje. Unverhofft knallte er, wie gegen einen Prellbock, gegen etwas, das eigentlich nichts in der Mitte des kleinen Raumes zu suchen hatte.
Er atmete tief durch, massierte sich seine Schläfen, in der Hoffnung, wenigstens kurz klar denken zu können. Doch die Mühe war umsonst. Anhand eines in englischem Slang ausgestossenen Fluches glaubte er erkennen zu können, wo sein Problem lag.
Der Engländer hielt sich noch die Schulter, welche mit der Tür schmerzliche Bekanntschaft gemacht haben musste. Die dunklen Wolken lösten sich langsam auf. Er glaubte bereits die Sonne zu sehen, als erneut eine Gewitterfront hereinbrach. Als wäre er soeben aufgewacht, wurde er sich bewusst, dass die Kollision dem Engländer sehr wahrscheinlich nicht gerade Freude bereitet hatte, geschweige denn die Tatsache, dass es den Anschein haben musste, als habe er versucht, ihn jetzt noch vollends flachzulegen.
Er war seinen Kabinengenossen wirklich dankbar, dass sie lange genug auf den Engländer einredeten, um ihn davon zu überzeugen, es lohne sich nicht, kurz vor Mitternacht noch eine Prügelei zu beginnen, wo sie doch alle nicht mehr zurechnungsfähig seien. Er murmelte ein lallendes "Sorry" und setzte seinen Weg fort. Da er nicht mehr die Absicht hatte, sich anzustrengen, beschlossen seine alkoholisierten Gehirnzellen, dass es von Vorteil wäre, ein wenig zu schlafen. Also vollendete er sein Vorhaben und glitt in die tiefe Koje hinein.
Die Sicht trübte sich, alles verschwamm vor seinen Augen. Dunkelheit wogte heran, umschloss ihn, entführte ihn in eine schönere Welt.
Er stand hoch auf dem Aussichtsdeck. Das tiefblaue Meer ging fliessend ins Rot der untergehenden Sonne über. Der Wind strich ihm durchs Haar. Ihn fröstelte. Entschlossen knöpfte er seinen Zweireiher zu und warf sich den Mantel um. Er überlegte sich gerade, ob er sich nicht ein Glas Cognac holen sollte, um sich ein wenig zu wärmen, da trat ein Kellner verlegen an ihn heran und fragte unterwürfig und auf Deutsch, ob es ihm wohl angenehm wäre, wenn er ihn in den Speisesaal zum Dinner begleiten würde. Dem salzigen Duft des Meeres wurde der süssliche Duft von Kaviar, Hummer und Lammbraten gegenübergestellt. Er wollte sich gerade dem Speisesaal zuwenden, als plötzlich ein Ruck durch das ganze Schiff fuhr. Unverhofft fand er sich im freiem Fall wieder, der blauschimmernden, gewellten Wasseroberfläche entgegen. Er schlug hart ins Wasser ein, das ihn sofort in eisiger Umklammerung festhielt.
Verwirrt und ein wenig benommen versuchte er sich daraus wieder zu befreien. Er wurde jedoch weiter geschüttelt, gerüttelt, ja zuweilen sogar geschlagen, als ob er seinen Sturz erneut erleben würde. Er griff um sich, um sich nur an irgend etwas festhalten zu können. Doch plötzlich schreckte er hoch. Erstaunt blickte er ins tief besorgte Gesicht eines Landsmannes.
Er rappelte sich auf und bemerkte erst jetzt, dass er auf dem eisernen Fussboden lag. Das gab ihm zu denken. Unerträglicher Schmerz loderte in seiner Wange auf. Der Engländer schien sehr gerne und bereitwillig beim Wecken zu helfen. Benommen stand er auf, jener wich einen Schritt zurück. Doch als er die besorgten Gesichter sah, das Weinen von Kindern, die Rufe von Erwachsenen hörte, glaubte er zu verstehen.
Auf einmal stand er im Gang, wurde geschoben, gezogen, vom Menschenstrom mitgerissen. Im nächsten Augenblick fand er sich zwischen zwei Unbekannten eingequetscht. überall irrten Menschenmassen umher, suchten wie Mäuse im unter Strom stehenden Labyrinth einen Ausgang. Nur mit Mühe erreichten sie eine der hoffnungslos verstopften Treppen ins Freie.
Einen Nachteil musste es doch geben, wenn man in der dritten Klasse reiste. Hier war er. Immerhin beruhigte ihn der Gedanke ein wenig, dass auch das Schiff der Erstklasspassagiere am Sinken war.
"Move ahead, hey, move your back!" Wie sollte er seinem englischen Freund denn klar machen, dass man da nicht vorwärts kam? Wie eine Sardine in der Dose kam er sich vor. Er konnte schon beinahe zähflüssiges, klebriges Öl fühlen, wie es ihm in Mund, Nase und Ohren eindrang.
Alles verschwamm vor seinen Augen. Seine Lungen verlangten nach Luft, sein Körper nach Raum. Sein Puls raste. Er verspürte den einfachen Wunsch, diesem Chaos zu entkommen. Tobend begann er um sich zu schlagen. Rufe entrangen seiner Kehle. Sein Bewusstsein reduzierte sich auf ein einziges Verlangen: raus hier.
Nur langsam kamen sie vorwärts. Die zusätzliche Neigung der Treppen erschwerte das Gehen. Kinder blieben zurück, weinten und verlangten nach ihren Müttern. Er überlegte gerade, wieso so lange niemand die Lage erfasst hatte, besonders als das Deck merklich zu kippen begann.
Bald blies ihm eisiger Wind ins Gesicht. Er schauderte, wurde zurückgetrieben, prallte jedoch am Engländer ab und ging von diesem angetrieben weiter. Sein durchlöchertes Jackett schützte ihn kaum, am ganzen Körper spürte er feinste Nadelstiche. Immerhin stand er wieder auf Deck. Weit ober ihm funkelten und glitzerten kalt die Sterne am klaren Himmel.
Der Sog zog ihn weiter, von der Tür hinaus gegen die Reling. Verzweifelt stürmte ein jeder in die Richtung, in der er ein Rettungsboot vermutete. Mehrere Matrosen versuchten, in der anstürmenden Horde wenigstens ein wenig Ordnung zu schaffen, doch schon mischten sich zerrissene Hemden mit Smokings, Wolldecken mit Pelzen.
Wieder rempelte er jemanden an, er interessierte sich kaum dafür. Noch nie war ihm so klar geworden, wie grausam die Natur wirklich war. Mit all seinen Kräften schwamm er vorwärts wie in einer dickflüssigen Masse, bahnte sich einen Weg, wohin wusste er nicht. Immerhin konnte er sich so der Illusion hingeben, er würde etwas für sein Wohlergehen unternehmen.
Unbewusst stiess er auf eine lebende Barriere, eine Abschrankung, die sich um eines der kleinen Boote gebildet hatte. Bis hierher, nicht weiter. Er verfolgte aus geringer Entfernung mit, wie Kind um Kind, Frau um Frau dem Leben entgegenstiegen. Eine nach der anderen. Und er war nicht dabei, konnte und durfte nicht dabei sein. Noch jemand und noch jemand. Aber er stand zu weit hinten. Dann wurde das Boot ins Wasser gelassen... augenblicklich löste sich die Abschrankung auf.
Sein Magen rebellierte. Ihm wurde übel. Er begann zu schwitzen. Seine Beine wurden weich. Er hastete weiter, der Menge nach. Alle tobten, stürmten, wüteten. Einige sprangen ins Wasser, andere wurden gestossen. Leben! Überleben! Ihm wurde schwarz vor Augen.
Ein plötzlicher Ruck liess ihn aufschrecken. Er schaute sich um. Nur noch vier Rettungsboote waren da. Er hatte sein Glück sicherlich noch einige Male versucht gehabt, erfolglos. Zu seinen Füssen sass ein kleines Mädchen auf dem hölzernen Deck, zusammengekauert und wimmernd. Von den Eltern verlassen? Er hob es hoch, spürte seine Wärme.
Das Deck unter ihm neigte sich gefährlich. Er hetzte weiter, zum nächsten Boot. Dort tauchte er in die wartende Menge ein, vereinte ein weiteres Mal seine gesamten Kräfte in den Versuch, sich bis zu ihm durchzukämpfen. Wie Ratten versuchte ein jeder ins kleine Boot zu klettern.
Jemand sprang über Bord, wahrscheinlich in der Hoffnung, sich unten ins Boot hieven zu können. Einige andere taten es ihm nach. Die erstickten Schreie der Gesprungenen gingen allerdings unter im weiten Ozean, der zusammengeflossen war aus dem Stöhnen des untergehenden Schiffes, dem hysterischen Gekreische der an Bord Gebliebenen und den Rufen der Geretteten. Die Schreie des Mädchens in seinem Arm rissen ihn den Tiefen entgegen.
Da riss ihm jemand das Kind aus dem Arm. "Es ist sicher nicht Deins. Willst Dich nur aus dem Staub machen, hä?" - "Cheating to survive, forget it!" Auch das noch.
Zurückgestossen sah er sich einem Berserker gegenüber. "Verfluchter Engländer".
Das Deck neigte sich unerwartet und schleuderte beide sich entgegen. Gemeinsam rollten sie übers Deck. Der Engländer schlug auf ihn ein, er hieb zurück. Der blinde Kampf war allerdings nur von kurzer Dauer. Ein Ruck fuhr durch das ganze Schiff. Blutverschmiert rappelte er sich wieder auf, von seinem Gegner fehlte jede Spur. Er lag auf dem Deck, das sich bereits wieder zu neigen begann. Dieses Mal sollte es nicht zurücksinken.
In aller Ruhe spazierten Männer im Smoking über das Deck, nippten an ihrem Whisky und sprachen über Aktiengeschäfte und Kapitalinvestitionen. Sie blickten zum Himmel hoch und wunderten sich, was es dort wohl noch zu sehen gäbe. Hände zeigten gen Himmel. Bei einem Gebet versammelten sich Gläubiger auf dem hinteren Deck. Unter ihm tauchte soeben ein Cello wie ein Pinguin ins Wasser ein. Schwärze wogte wieder heran, frass sich Latte für Latte das Deck hoch. Kälte und Schwerkraft zerrten ihn hinunter.
Er versuchte sich festzuhalten. Er fiel.
Der Aufprall schmerzte nicht. Sanft glitt er über die Wasseroberfläche, eine schiefe Ebene hinunter. Und während die Lichter der Titanic langsam verloschen, sah er weit unter sich ein sanftes Schimmern.